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The Last Ride

Sieben Gipfel auf sieben Kontinenten und das Dilemma des Klimawandels

Will Tucker ist Engländer, er ist ausgebildeter Skilehrer und war als solcher viele Winter lang zuerst in Österreich und dann in Nendaz, im Herzen der 4 Vallées, und damit dem grössten Skigebiet der Schweiz, tätig. Zudem ist er ausgebildeter FIS-Juror und in dieser Funktion rund um den Globus unterwegs, um die Athleten bei internationalen Skirennen zu bewerten.

 

Ein Portrait über Will Tucker
Fotos: Denali Portage

Soweit so gut, aber reicht das aus, um ein Porträt über ihn zu schreiben? Immerhin ist er nicht der einzige Engländer, der sich über Umwege irgendwann auf die Schweizer Pisten verirrt und dort seine Liebe für den Skisport entdeckt beziehungsweise ausgelebt hat. Er ist auch nicht der einzige Engländer, der dank Brexit die Schweiz verlassen und dem Leben als Skilehrer vorerst einmal ade sagen musste. Aber dieser ungewollte und erzwungene Abgang führte bei ihm dazu, dass er trotz anderer beruflicher Betätigungen schnell einmal eine neue Herausforderung suchte. Neugierde und Abenteuerlust, aber auch, wie er zugibt, «eine gewisse Langeweile» führten ihn irgendwann ins Internet und zu einer einfachen Google-Suche zum Thema Expeditionen. Ganz konkret lautete die Fragestellung, wie sich eine oder genauer gesagt mehrere Expeditionen in mehr oder weniger abgelegenen Regionen unserer Erde in die Tat umsetzen liessen, und zwar mit dem Ziel, den jeweils höchsten Gipfel eines jeden Kontinents zu besteigen und dann mit Skiern abzufahren. Sie alle, liebe Leser und Leserinnen, wissen vermutlich, dass eine solche Suche schnell einmal ungeahnte Ausmasse annehmen kann, vor allem und gerade dann, wenn sie aus Langeweile passiert. So war es auch in diesem Fall und angesichts der Natur der Sache dauerte es nicht lange, bis die anfängliche Fragestellung einen Rattenschwanz an weiteren Fragen zu viel grösseren Themen nach sich zog. Schnell stellte sich nämlich die Erkenntnis ein, dass die logistischen Schwierigkeiten möglicherweise gar nicht das eigentliche Problem waren und, sofern richtig angegangen, gemeistert werden konnten, wohingegen die eigentliche Herausforderung eine ganz andere ist, nämlich der sich zunehmend beschleunigende Rückgang unserer Gletscher und Schneefelder – ein Dilemma ganz anderer Grössenordnung.

Abenteuerlust trifft auf Aktivismus

Diese Realisation gab schlussendlich den Anstoss zur Idee, das ursprünglich angedachte Expeditionsprojekt zu erweitern, und so wurde «The Last Ride» geboren. Die Initiatoren – neben Will Tucker sind das Ed Salisbury, ein gelernter Tischler, der heute vor allem mit der Konstruktion von Filmsets seinen Lebensunterhalt verdient, und Jon Moy, ein preisgekrönter Filmemacher und Kameramann – haben sich ein hehres Ziel gesetzt. Sie wollen nicht nur die sieben höchsten Berge unseres Planeten erklimmen und mit Skiern befahren, sondern im Zuge dessen auch darauf aufmerksam machen, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Welt im Allgemeinen und auf die Bewohner der von ihnen besuchten Gegenden im Speziellen hat. Mit verschiedenen Initiativen und einem Film als Endergebnis ihrer Reise möchten sie zu einem allgemein grösseren Verständnis für die Folgen, die die Erwärmung des Klimas für uns alle hat, beitragen und innovative Strategien zur Bekämpfung derselben beziehungsweise zum Umgang damit teilen.

Um das zu erreichen, kollaborieren sie und führen Interviews mit den Menschen, denen sie während ihrer Reisen begegnen, wobei sie den Fokus bei jedem Reiseziel auf einen anderen Aspekt legen, sodass sie zum Schluss in ihrem Film Ideen, Inspirationen, aber auch harte Fakten und Tatsachen in sieben Kapiteln präsentieren können. Dabei sprechen sie mit Mitgliedern der vom Klimawandel betroffenen Gemeinschaften ebenso wie mit namhaften Wissenschaftlern, die sich mit der Thematik des Klimawandels befassen. In Alaska trafen sie etwa  auf Jeffrey Welker, einen Experten in arktischer Ökologie und Biogeochemie von der University of Anchorage, während sich ihnen am Elbrus die Gelegenheit bot, ein Gespräch mit der Glaziologin Olga Solomina zu führen, die als Mitglied des UN-Klimarats gemeinsam mit Al Gore im Jahr 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

In Tansania, wo das Trio am Kilimandscharo die zweite alpinistische Etappe des Projekts absolvierte, wurde eine Kollaboration zwischen «The Last Ride» und dem «Kilimanjaro Project» ins Leben gerufen. Diese Initiative hat sich die Wiederaufforstung und Wiederherstellung der Biodiversität im Upper Pangani River Basin zum Ziel gesetzt, einer Region, die besonders stark von grossflächiger Abholzung betroffen ist, während die Kommunen rund um den Denali in Alaska – die dritte Etappe – beispielsweise mit ganz anderen Problemen, wie etwa dem stetigen Rückgang des Permafrosts, zu kämpfen haben. Wieder anders wird es am Aconcagua in Argentinien oder auch in Neuguinea aussehen, wo der Puncak Jaya als höchster Gipfel Ozeaniens steht. Mit welchen Herausforderungen die dort ansässigen Kommunen und Völker zu kämpfen haben, davon wollen sich Will und Konsorten vor Ort ein Bild machen und Aufmerksamkeit sowie Unterstützung für geeignete Initiativen schaffen.

Langsam, aber stetig

Um die betroffenen Menschen aber überhaupt treffen und einen direkten Einblick in die jeweiligen Lebensumstände erlangen zu können, doch auch, weil es ihren Ansprüchen als Sportler und Abenteurer entspricht, haben sich die drei jungen Männer sozusagen für die Langsamkeit entschieden. Wo Träger und Führer obligatorisch sind, um beispielsweise sicherzustellen, dass die lokale Bevölkerung wirtschaftlich vom Bergtourismus profitiert, werden diese selbstverständlich eingesetzt. Abgesehen davon wird aber auf grosse Teams sowie Transportflüge verzichtet. Ziel ist es, den ökologischen Fussabdruck so klein wie möglich zu halten, wobei offensichtlich keine Expedition, und sei sie noch so klein, ohne erhöhte Emissionen auskommt.

Will macht keinen Hehl aus der Tatsache, dass er selbst mit der Vereinbarkeit des Vorhabens und den grösseren Zielsetzungen hadert. «Let’s not avoid the elephant in the room», meint er. «Wir sind eine Gruppe weisser Jungs aus einer wohlhabenden Gesellschaft, die es sich leisten kann, seine Energie in jedes beliebige Vorhaben zu stecken – und zwar auch in solche Projekte, die nicht tonnenweise Emissionen verursachen. Warum also haben wir uns ausgerechnet zu diesem Vorhaben entschieden? Wir alle kommen aus dem Ski- und Bergsport und in diesem Bereich haben wir nun einmal die meiste Erfahrung. Aber wenn ich eine Antwort auf die Frage geben sollte, ob wir mit unserem Projekt den richtigen Ansatz gewählt haben, würde ich es zum jetzigen Zeitpunkt wirklich schwer finden, mit einem klaren Ja zu antworten. Trotzdem, ich kann zugleich auch mit Fug und Recht behaupten, dass ich selbst und auch meine Kollegen nur die besten Absichten haben. Auch wenn wir anfangs einfach nur die Idee hatten, sieben Berge auf sieben Kontinenten zu besteigen, ist der klimatische Aspekt mittlerweile sehr wichtig für uns geworden und es ist uns ein wirkliches Anliegen, zumindest ein Umdenken erreichen zu können.»

Bisher Erreichtes und weitere Pläne

Anstatt in Anbetracht der Tatsachen alle Pläne gleich wieder zu verwerfen, haben sich Will und Ed von Earthly.org, einer der grössten und bekanntesten im Klima- und Umweltschutz tätigen Plattformen, beraten lassen. Gemeinsam kam man zum Ergebnis, dass es sinnvoll wäre, die durch das Projekt mit seinen sieben Expeditionen verursachten Emissionen um das Siebenfache und auf sieben verschiedene Arten auszugleichen. Diese verschiedenen Arten sollten entlang der Reise auf ihre Vorzüge, aber auch auf ihre Nachteile untersucht und filmisch festgehalten werden. Damit soll schlussendlich dem Publikum die Möglichkeit gegeben werden, sich seine eigene Meinung zu bilden und sich gegebenenfalls zur Unterstützung eines geeigneten Projekts zu entscheiden.

«Meine Hoffnung wäre es, dass unser Film, wenn er einmal fertig ist, andere Menschen dazu inspirieren wird, in die Natur zu gehen und diese zu spüren, egal ob bei der Vogelbeobachtung, beim Angeln oder beim Bergsteigen. Wenn man Zeit draussen verbringt und Aktivitäten in der freien Natur nachgeht, werden zwangsläufig dieselben Fragen auftreten, die auch uns zu Beginn unseres Projekts beschäftigt haben und noch immer beschäftigen. Und je mehr Menschen sich  mit diesen Fragen auseinandersetzen, desto eher werden wir hoffentlich auch Antworten finden und vor allem bereit sein, unser Verhalten zugunsten des Klimas zu verändern», meint Will.

Bis dato hat das Trio neben dem höchsten Berg Europas, dem Elbrus, auch den Kilimandscharo als höchsten Gipfel Afrikas sowie die höchste Erhebung Nordamerikas, den Denali in Alaska, bestiegen. Alle drei konnten noch mit Skiern befahren werden, auch wenn der auf dem Dach Afrikas noch vorhandene Schnee immer spärlicher wird. Ausständig sind neben dem König aller Berge, dem Mount Everest, noch der Mount Vinson in der Antarktis sowie der Puncak Jaya in Neuguinea als höchster Berg Ozeaniens. Läuft alles nach Plan, sollen bis Ende 2024 die noch ausstehenden Gipfel bestiegen und weitere Kooperationen mit regionalen Initiativen auf die Schiene gebracht werden. Und da der Klimawandel kein geografisch begrenztes Phänomen ist, sondern uns alle betrifft, sind Will, Ed und Jon zwischen den einzelnen Expeditionen auch vor Ort in Grossbritannien mit der Kamera unterwegs und bei verschiedenen Projekten im Einsatz. Sie kooperieren mit verschiedenen lokalen Organisationen, allen voran «Project Seagrass» und «Moors for the Future», die sich dem Schutz der Seegrasteppiche sowie der Moore verschrieben haben. Als nächstes Ziel steht der höchste Berg Südamerikas an. Der 6’961 Meter hohe Aconcagua in den Anden, der sich auf argentinischem Boden, jedoch unweit der Grenze zu Chile befindet, soll im November bestiegen werden – und bei geglückter Mission gibt es in einer der nächsten Seazen-Ausgaben hoffentlich einen Auszug aus dem Expeditionstagebuch zu lesen. Den krönenden Abschluss sollte eigentlich der Everest darstellen, doch da es Probleme mit der Einreise nach Neuguinea gibt, wird diese Ehre schlussendlich womöglich dem Puncak Jaya zuteil. Dieser stand bereits im September 2022 auf dem Plan, aber man wartet noch immer auf die nötigen Visa, sodass die Expedition kurzfristig erst einmal abgeblasen werden musste. Eine unerwartete Planänderung mit weitreichenden Folgen, denn Will beschloss, die plötzlich frei gewordene Zeit für eine Tour auf den Mont Blanc zu nutzen, die alles andere als erfolgreich verlief. Er startete gemeinsam mit einem Freund und Mentor und kam alleine wieder zurück.

Die Folgen der Vergangenheit

Wir sind die Summe unserer Erfahrungen, heisst es oft und das wird in Wills Fall recht deutlich. Er ist von den ersten, durchweg positiven Erfahrungen in der Familie ebenso geprägt wie von jenem schrecklichen Unfall, der im letzten Jahr seine Sicht auf viele Dinge – gerade, was den Bergsport betrifft – ziemlich verändert und auf den Kopf gestellt hat. Doch schön langsam der Reihe nach: Wie kommt es überhaupt dazu, dass ein junger Bursche aus der englischen Provinz zu einem begeisterten Skifahrer und Bergsteiger wird? Südwestengland ist ja nicht gerade für schneereiche Winter oder hohe Berge bekannt, auch wenn fairerweise gesagt werden muss, dass Will unweit von Wales aufwuchs, wo es immerhin einige Hügel gibt und die höchste Erhebung, der Mount Snowdon, stolze 1’085 Meter erreicht. Dafür sind aber die Engländer selbst dafür bekannt, dass sie gerne ausziehen und die Welt erkunden – Thomas Cook, nach dem noch heute ein britisches Reiseunternehmen benannt ist, brachte bereits 1863 die erste Reisegruppe aus Grossbritannien in die Schweiz und sogar noch früher, nämlich 1857, wurde der sogenannte «Alpine Club» in London gegründet. Liegt der Alpinismus den Briten also im Blut? Darüber lässt sich wohl streiten, doch bei Will Tucker könnte es durchaus der Fall sein. Er muss seine Leidenschaft für die Berge von seinen Eltern vererbt bekommen haben, die beide begeisterte Skifahrer waren und nach wie vor sind. Diese Begeisterung reichte so weit, dass die Familie jedes Jahr für die Wintermonate ins österreichische Zillertal übersiedelte. Die Eltern arbeiteten als Skilehrer, während die Kinder unter professioneller Aufsicht ihre ersten Schwünge machten. Und als wäre es damit nicht getan, wurde die Saison einfach verlängert und der Vater versah den heimischen Garten mit einer künstlichen Piste. Es war kein schlechter Anblick, der sich mir bot, als ich Anfang der 90er-Jahre frisch aus der Schule bei den Tuckers ankam, um den Kindern Deutsch beizubringen oder es zumindest zu versuchen: Mit Wasser besprühte Gummimatten lagen da dicht aneinandergereiht auf einem leicht geneigten Hang und wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, gab es sogar einen selbst gezimmerten Lift als Aufstiegshilfe. How very strange!
Was mir komisch erschien, war für die Familie ganz normal und man muss es ihnen zugestehen: Die Gummipiste hat sich bezahlt gemacht. Vater Colin reiste noch bis letztes Jahr rund um den Globus, um an so vielen Skirennen wie möglich teilzunehmen und Schwester Hannah, die einen Teil ihres Studiums in Innsbruck absolviert hat, lebt mittlerweile in Neuseeland, wo sie vor Jahren einen Job von der FIS in Queenstown angeboten bekam. Sie war es auch, die Will zum ersten Mal nach Nendaz holte, da sie bereits vor ihm dort in einer Skischule tätig war. Er selbst verbrachte zahlreiche Saisons dort, sodass er das Gebiet und die Gegend in- und auswendig kennt. Seine Tipps zu den besten Abfahrten und Lokalen finden Sie am Ende dieses Berichts.
Auch wenn er aufgrund von Brexit mittlerweile nicht mehr in der Schweiz arbeiten darf, kommt Will doch gerne zurück, zum Skifahren und Paragleiten ebenso wie zum Bergsteigen. Im September 2022 unternahm er gemeinsam mit einem Freund den Versuch, den Mont Blanc zu besteigen, doch dieses Vorhaben scheiterte auf ganz dramatische Art und Weise. Am 11. September 2022 stürzte Wills Freund und Mentor Andrew Wilkinson in den Tod, als einer der Einzelpunkt-Felsanker, die die beiden zur Sicherung ihres Schlafplatzes benutzt hatten, nachgab. Sie befanden sich am Peutérey-Grat, als sie beschlossen, auf etwa 1’200 Metern ihr Nachtlager zu errichten. «Ich lebe heute, weil Müdigkeit und Faulheit dazu geführt haben, dass ich eine schlechte Haltung einer Sicherung mit Karabiner am Anker vorzog, während Andrew, der sich, wie es sich gehörte, gesichert hatte, 1’100 Meter auf das darunter liegende Geröllfeld abstürzte.» Das war bei Einbruch der Dunkelheit und es dauerte gute zehn Stunden, bis Will bei Tagesanbruch von den italienischen Behörden gerettet und mit dem Hubschrauber nach Courmayeur geflogen werden konnte. Heute, so sagt Will, falle es ihm schwer, über seine bergsteigerischen Ambitionen oder auch «The Last Ride» zu sprechen, ohne die Freuden und Vorzüge des Bergsports angesichts dieser schrecklichen Erfahrung einzuschränken.
«Der Berg ist kein Abenteuerspielplatz, auch wenn das von immer mehr Menschen so aufgefasst zu werden scheint. Eine Expedition oder Tour erfordert Vorbereitung und grundlegende Kenntnisse – Geld allein reicht nicht und einen Gipfelsieg kann man nicht kaufen. Man sollte sich immer der Tatsache bewusst sein, dass unvorhergesehene Eventualitäten eintreten können und dass immer ein gewisses Restrisiko besteht. Viele der besten Alpinisten kamen ums Leben, obwohl sie bestens vorbereitet und ausgerüstet und mit einem Team von Profis unterwegs waren.»

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