Der leise Tod des roten Guide Michelin
Serge Lang war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zwei Meter gross, hundertzwanzig Kilo Mindestgewicht und Pranken wie ein Grizzly. Er erfand 1966 während der Ski-Weltmeisterschaften im chilenischen Portillo den Ski-Weltcup, war jahrelang Vorsitzender des FIS-Weltcup-Komitees und berichtete für führende europäische Zeitungen neben dem Skirennsport auch über die grossen Radrennen. Sein Einfluss auf Verbände, Gremien und weiss Gott was alles war immens. Ohne seinen Segen lief so gut wie nichts.
Lang, ein in Basel aufgewachsener Elsässer, war auch ein Lebemann. In den verschiedenen Stationen des Skiweltcups beanspruchte er für sich gern einen Helikopter, verkehrte ausschliesslich in Luxusherbergen und liebte das Schlemmen in guter Gesellschaft. Wir jungen Journalisten profitierten in den 70er- und 80er-Jahren in mancher Hinsicht von ihm. Nicht zuletzt dann, wenn es um die so wichtige Wahl von Hotels und Restaurants ging. Lang hatte immer und fast für jedes Land den roten Guide Michelin zur Hand. Nie hätte er ein Restaurant besucht, das dort nicht aufgeführt war. Und schon gar nicht in einem Hotel gewohnt, das von den Michelin-Testern nicht mit den berühmten roten und schwarzen Häuschen ausgezeichnet wurde. Am liebsten waren ihm fünf rote, das Maximum eben. Wer auf Nummer sicher gehen wollte und Leerläufe hasste, schloss sich einfach dem Serge an.
Mit seiner Liebe zum roten Guide Michelin hat er uns alle angesteckt. Plötzlich gingen auch wir nicht mehr ohne das Buch nach Spanien, Italien, Frankreich, Skandinavien, in die USA oder sonst wohin. Auf die Bewertungen war einfach Verlass. Überall und meist zu hundert Prozent. Bei Hotels und Restaurants gleichermassen. Wirkliche Reinfälle gab es nicht. Als vor fast dreissig Jahren der erste rote Michelin für die Schweiz erschien, nahmen wir den natürlich ganz genau unter die Lupe – und wurden nicht enttäuscht. Das Buch etablierte sich auch hier als die Bibel aller Hotel- und Restaurantführer.
Was die Restaurants betrifft, wird das wohl auch so bleiben. Aber die Hotels? Das ist ein anderes, ein trauriges Kapitel. Es begann schleichend vor drei Jahren mit der letzten gedruckten Ausgabe des roten Michelin Schweiz, als die Auswahl an getesteten und empfohlenen Hotels plötzlich massiv zusammengestutzt wurde. 2021 verzichtete Michelin dann mit dem Hinweis auf Corona und die neue digitale Strategie des Unternehmens erstmals ganz auf die Schweizer Buchausgabe – und zur Fassungslosigkeit der Branche auch erstmals auf das Testen und Bewerten von Hotels. Es geht allein noch um Restaurants. Wer ein Hotel sucht, wird auf das Internetportal TabletHotels verwiesen, mit dem man seit ein paar Jahren zusammenarbeite.
TabletHotels? Suchte man auf diesem Portal zum Beispiel ein Hotel in Bad Ragaz, wurde man unter anderem auf Häuser in Lindau, Vaduz und Nonnenhorn am Bodensee verwiesen. Das Park Hyatt in Zürich, eröffnet vor bald fünfzehn Jahren, wurde als «brandneu» beschrieben. Dass das (mittlerweile neu ausgerichtete) Restaurant Pavillon im Zürcher Baur au Lac längst zwei Sterne und nicht nur einen hatte, wurde bei TabletHotels nicht bemerkt. Dasselbe galt für das Restaurant Ecco im Giardino Mountain in St. Moritz-Champfèr. Untergegangen war auch, dass das Hotel Le Richemond in Genf längst geschlossen war.
Dafür tauchte bei TabletHotels wieder das Kameha Grand in Zürich auf, das schon vor Jahren hochkant aus dem roten Führer geflogen war und seinen Stern längst verloren hatte. Im Kommentar zum Kameha las man staunend, es sei zu berücksichtigen, dass das Hotel noch in seiner Eröffnungsphase stecke. Geöffnet ist es seit zehn Jahren. Für die St. Moritzer Nobelherbergen Suvretta House und Kempinski gab es «vorübergehend» überhaupt keine Beschreibung. Die Liste des Grauens nahm kein Ende, und es ist heute kaum besser. Auf dem sinnfreien Portal sind die Häuser nach dem Jekami-Prinzip völlig beliebig aufgeführt. Und vor allem werden sie nicht bewertet. Dafür versucht TabletHotels, dem Besucher eine Travel-Plus-Mitgliedschaft für 99 US-Dollar anzudrehen.
Der 1900 erstmals erschienene rote Guide Michelin wurde zur Ikone, zum weltweit besten, zuverlässigsten und angesehensten aller Hotel- und Restaurantführer. Kein anderer Guide konnte je mit der Professionalität und Seriosität der Michelin-Tester mithalten. Doch alles hat seine Zeit. In der Schweiz und demnächst auch in den andern Ländern, gibt es den Führer nur noch digital. Das rote Buch, das Millionen gekannt und geliebt haben, ist Geschichte.
Damit kann man leben. Schmerzhaft ist, dass Michelin zu einem simplen Restaurantportal geschrumpft ist, dass man sich von den so populären Hotelbewertungen verabschiedet hat. Unlängst hat das Unternehmen zwar bekannt gegeben, dass man Hotels wieder auszeichnen will. Die wichtigste Information aber, ob ein Haus Weltklasse ist oder einfach nur gut, die Bewertung eben, wird weiterhin fehlen. Folglich ist’s eine Alibiübung für die Katz. Nichtssagende Auszeichnungen gibt es zuhauf, manche kann man auch kaufen. Jede nationale Tourismusorganisation bietet auf ihrer Homepage mehr an Seriosität.