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Nicht ohne mein Kimchi

Fotos: © Lukas Lienhard

Seoul ist umwerfend. Auch kulinarisch. Gesittet, gesund und gleichzeitig voller Energie hoch emotional. Um der Esskultur ein kleines Stückchen näher zu kommen, hat uns der Dokumentarfilm-Produzent Gary Byung-Seok Kam den Bauch seiner Heimatstadt gezeigt.

B evor wir zum Bauch kommen, noch etwas für den Kopf. Wer nämlich angibt, etwas von Essen zu verstehen, kommt um K-Food nicht herum. Kunststück, denn die Küche von Südkorea wird von vielen, die es wissen müssen, als gesund (weil divers und fermentiert), als sinnvoll (weil vorwiegend pflanzenbasiert und saisonal) und als geschmacksreich (weil vielschichtig komponiert), beschrieben. Natürlich ist K-Food für die Tourismusbehörde ein wohliges Lockmittel, das neben K-Pop erfolgreich auf der ganzen Welt eingesetzt wird und dazu beiträgt, dass Seoul heute zu den Top-Ten-Reisestädten der Welt gehört. Und was ist dran, am Hype um den K-Food?

Viel. Weil Trends wie Nachhaltigkeit, Gesundheit und Bewusstsein dem proklamierten K-Food entgegenkommen. Die koreanische Küche ist warm und zugänglich. Geschmacklich geht sie eher in die Breite und weniger in die Tiefe wie die japanische Küche. Komplex sind beide. In Korea gilt die Küche als Basis des Lebens und damit meine ich nicht nur die religiös geprägte Tempelküche, wie sie etwa die weltbekannte buddhistische Nonne Jeongkwan Snim zelebriert. Essen ist in Korea die «erste Medizin». Eine Haltung, die man selbst in der Alltagsküche und der Strassenküche spürt und das nicht etwa nur auf dem Land, sondern auch im modernen Seoul, der «besonderen Stadt», dem Ausgangspunkt der K-Welle. Kurzum: K-Food bietet, was 2015 an der Weltausstellung in Milano unter dem Motto «Feeding the Planet, Energy for life» im Pavillon der südkoreanischen Regierung deutlich gemacht wurde, einen Lösungsansatz, wenn es um Ernährungs- und Klimafragen geht. Natürlich kann man den Erfolg von K-Food auch auf einem anderen Niveau ablesen und als Beweis zum Beispiel die Serie «Streetfood: Asia» auf Netflix herbeiziehen und im Besonderen auf jene Episode verweisen, die sich dem gedeckten Gwangjang-Markt in Seoul widmet. K-Food kommt an, K-Food ist angekommen.

Zur Vorbesprechung unseres Plots für diese Geschichte treffen wir uns mit einem Kenner. Auch wenn es regnet. Draussen. Dunkel ist es auch drinnen, im unspektakulären Restaurant. Es ist spät und für ein Abendessen sind wir sehr spät dran. 19:50 Uhr. Mal schauen, ob wir gemeinsam mit unserem Protagonisten in den nächsten Tagen «seine» kulinarische Stadt erkunden können. Gary Byung-Seok Kam ist nicht irgendwer. Er reist viel, lebt in Seoul und vermittelte den Lesenden der NZZ im Rahmen der Olympischen Winterspiele 2018 mit seiner Kolumne erhellende Einsichten rund ums sportliche Grossereignis, für das er auch den offiziellen Film realisiert hat. Er ist Produzent und Regisseur, «sein» Dokumentarfilm («In the Absence») wurde 2020 für den Oskar nominiert, was ihn zum ersten Dokumentarfilm-Produzenten von Korea macht, der für einen Oskar nominiert wurde. Als Regisseur hat er unzählige TV-Formate produziert, seit 2006 ist er unabhängiger Filmemacher. Ein intellektueller Kreativkopf. Besonnen. Bedacht. Und! Ein begeisterter Geniesser, mit dem wir also mitten in Gwanhun-dong sitzen und Makgeolli trinken. Das naturtrübe Reisgebräu schmeckt prickelnd, süsslich, säuerlich und es trinkt sich so süffig wie flüssiger Milchreis. Alles bestens. Der «Bauern-Alkohol» gilt als eines der ältesten alkoholischen Getränke Koreas. Vor uns werden gerade 16 verschiedene Speisen aufgetischt, so sieht hier ein einfaches Abendmahl aus. Wichtig: eigentlich ginge das um punkt 18 Uhr los, um 20 Uhr schliesst die Küche und unsere Uhren zeigen 20:25 Uhr an. Wir sind die letzten im Lokal. Aber die Gute-Nacht-Nachricht lautet: Gary macht mit. Für einmal steht er vor der Kamera. Auch, oder gerade, weil es «nur» um Essen geht, wobei Essen auch Politik ist, aber lassen wir das.

«Essen ist in Korea die ‹erste Medizin›. Eine Haltung, die man selbst in der Alltags- und Strassenküche spürt.»

Mit einem kleinen Adress-Zettel in der Hand (damit wir nicht verhungern), können wir den nächsten Tag gut überleben und am Abend im Restaurant Soowoon einen Tisch reservieren. Gary wird uns am Tag darauf dorthin begleiten, wo das Leben spielt. Stichwort Streetfood und BBQ. Ein gutes Drehbuch, finden wir und streifen am nächsten Mittag durch die Stadt und die Gourmetfood-Abteilung, pardon, die «Food Avenue» vom «Lotte Department Store» an der Namdaemun-Ro. Das Kaufhaus-Spektakel und die Inszenierung der Lebensmittel sind durchaus mit Tokyo zu vergleichen und auch die Preise haben es in sich. Dafür ist man im K-Food-Schlaraffenland. Ein paar getrocknete Kaki hier, eine Honigmelone für 50 Franken da, Frühlings-Baumtriebe, Chili, Spinat, verschiedenste Zwiebel- und Knoblauchsorten, wildes Gemüse, Wurzeln, frische und getrocknete aller Arten, Blätter zum Einlegen, noch nie gesehene Salatsorten, Pilze, Rettich, alles für eine gute Suppe und Fisch und Fleisch für ein reiches Leben liegen hier aus. Koreanische Datteln für den Tee. Peperoni, die in Korea eher neu sind, genau wie Pain au Chocolat oder französische Butter oder Weine aus der ganzen Welt. Man staunt und schon ist Abendessen angesagt. Ehrlich gesagt: wieder sind wir spät dran. Moderne, aristokratische, koreanische Küche steht auf dem Speiseplan. Reduziert, gesetzt, formell und sehr stylisch, so präsentiert sich das Restaurant Soowoon by Haevichi, mitten in der City. Am langen Tisch, der nicht als Ausstellungsstück gedacht ist, aber irgendwie so wirkt, werden wir vorbei in einen separaten Raum geführt. Er präsentiert sich wie ein Privat-Dining-Banking-Room der UBS am Paradeplatz in Zürich. Nichts ist zu viel. In den Einbauschränken wird die Garderobe aufgehängt, jedes Holz-Möbelstück besticht durch dezidierte, klare Schönheit und Form. Der Rest ist Aussicht. Ein Setting, das die maximale Konzentration auf die Mitmenschen und aufs Essen ermöglicht, das der Chef, Dae Han Im, persönlich serviert und erklärt. Wer ihm in die Küche folgt, was nicht unbedingt vorgesehen ist, und dort mit ihm diskutiert, merkt sofort, dass er von seiner Leidenschaft getragen wird und seinen Beruf, so kitschig es klingen mag, als Berufung versteht. Er hat minutiös trainiert und sich auf die authentische Hansik-Küche spezialisiert. Hansik? Kurz gesagt, die traditionelle koreanische Küche. Er zelebriert sie in purer Perfektion und Reinheit. Minimalistisch. Klar im Geschmack und dennoch unendlich vielfältig. Genauso, wie das Restaurant selbst. Abalone-Reis, Fasanen-Dumplings, Bohnenpuffer, Löwenzahn-Kimchi und zur Krönung (vom Bauch des Rindes) eine Art nordkoreanisches Bollito misto zum Teilen (Siedfleisch, Zunge, Kiefernpilze, etc.). Selbstverständlich kommt der Makgeolli hier nicht aus der Pet-Flasche, sondern wird zu jedem Gang passend und in der idealen Trinktemperatur serviert, einmal sogar mit Beifuss versetzt. Wer eine noble Auslegung der Hansik-Küche erleben möchte, ist im Soowoon genau richtig. Ein Restaurant, das offensichtlich als Hingabe konzipiert wurde. Es ist ein Geschenk, an dem sich erfreuen darf, wer Hansik liebt. Trotzdem! Wir müssen gehen. Es ist 21:19 Uhr und wir sind wieder die letzten Gäste. Gute Nacht.

«Guten Morgen», sagt Gary am nächsten Tag. Heute ist Streetfood- und BBQ-Tag. Das richtige Leben halt, und da kommt man in Seoul nicht um den Kwangjang-Markt umher. Er ist seit über hundert Jahren ein Paradies für Foodies und einer der grössten Streetfood-Hotspots der Stadt. Spätestens seit der Netflix-Serie ist er weltbekannt. «Ich liebe diesen Markt», sagt Gary, weil man auf engstem Raum sehr viele verschiedene Spezialitäten probieren könne, sagt er. «Die Atmosphäre ist grossartig, aber die Qualität ist nicht in an jedem Stand aussergewöhnlich», mahnt er. Man sollte gegen zehn Uhr morgens dort sein, wenn man mit den Marktfrauen etwas schäkern will, denn um Punkt zwölf Uhr wird der Markt von Menschen geflutet, die schnell, gut und günstig zu Mittag essen wollen.

«Willst du probieren?», fragt mich eine Marktfrau, die gelbe Plastikhandschuhe trägt und eine schwammige, rötlich-stachelige Handgranate, frisch aus dem Meer, mit ihrem Messer traktiert. «Menogge», sagt Gary. See-Ananas oder Halocynthia roretzi. Noch bevor ich mich fertig gefragt habe, ob der Mensch wirklich alles essen muss, streckt sie mir ein Tellerchen Glitschiges über den Tresen. «Gut für alte Menschen, die keinen Appetit mehr haben», sagt sie. Danke dafür. «Aber auch für die Potenz», ergänzt sie schnell, wobei so ziemlich alle Dinge, die hier so aussehen, als sollte man sie besser nicht essen, als gut für die Potenz beschrieben werden. Menogge gilt in Korea als Delikatesse und selbstverständlich gebietet es der Anstand, mit grosser Freude das zu probieren, was in seichten Meeres-Gewässern, an Klippen wächst oder in Japan und Korea auch im grossen Stil gezüchtet wird. Roh. Einzigartig intensiv. Nach Jod. Erde. Meer und Algen. Umami. Aber auch leicht süsslich. Ein Schluck Makgeolli – meinetwegen gerne auch mit Beifuss versetzt – wäre jetzt perfekt, aber es ist noch etwas früh. Der Markt ist erst am Aufwachen. Die Marktfrauen – ja, die Geschäfte sind meistens in Frauenhand – decken ihre Stände ab. Es wird geschnitten, getratscht, gebrüht, gedreht, gepresst und gelacht. Ein guter Start, denn alles, was man nach der See-Ananas zu sich nimmt, schmeckt leicht süsslich. Gary zieht uns weiter hinein, in den legendären Markt, den man durchaus als Bauch der Stadt bezeichnen kann.

In kleinen Becherchen, frisch in heissem Wasser aufgebrüht, darf ich auf Lockrufe eingehend wieder probieren, aber bevor ich das tue, vergewissere ich mich, ob das auch wirklich gut für die Potenz sei und siehe da: gut für die Potenz! Seidenraupen. Zu tausenden werden sie angeboten, in riesigen Netzkissen, getrocknet. Protein. Nussig im Geschmack, eine gute Sache, wenn man sich vor nichts ekelt. Weiter, weiter, es gibt noch viel zu sehen, vor allem die Gemüsestände. Im Frühling sind sie mit Wildkräutern, Wurzeln, Berggemüse, Trieben, Knospen und Laucharten bestückt, von denen man anderswo nur träumen kann. Diese Vielfalt, dieser Reichtum und auch der verbreitete Buddhismus haben in Korea dafür gesorgt, dass die vegane oder zumindest die vegetarische Küche unvergleichlich abwechslungsreich ist. Selbstverständlich kommt man hier auch nicht um Kimchi herum. «Koreaner können nicht ohne Kimchi leben», sagt Gary. Es wird aus allem Erdenklichen gemacht, denn das fermentierte Gemüse ist und bleibt Koreas Nationalbeilage. Man stopft es in Dumplings, die asiatische Version von Ravioli, man hackt es in Mungobohnenpuffer, die hier frisch gemahlen, gepresst, geformt und schwimmend im Fett ausgebacken werden, um danach sofort verzehrt zu werden, oder man isst das Kimchi einfach so, weil es zu allem passt.

Fermentation spielt auch auf dem Kwangjang-Markt eine tragende Rolle und selbstverständlich sind die roh in Sojasauce eingelegten, bläulich schimmernden Krabben, die mit einer Haushaltsschere aufgeschnitten werden und mit Handschuhen direkt vor Ort und im Stehen probiert werden können, nicht nur glitschig im Inneren, sondern auch gut für die Potenz. Genau wie die in Chili marinierten Oktopus-Tentakeln. Oder das Gekröse und die Rogen des Alaska-Pollacks. Ich bin begeistert. Von der Frische, der Freundlichkeit und auch von der Organisation, die hier herrscht. Alles ist gut und man könnte vom Boden essen. Oder an einem Marktstand. Insgesamt soll es hier über 5’000 Geschäfte geben, an denen man so ziemlich alles kaufen kann, was es so braucht. Zeit fürs Mittagessen. Oder doch noch etwas Kleines tun für die Potenz? Dann käme der lebendige Oktopus, den man sich ganz in den Mund stopft, gerade recht. Vielen Dank. Ich verzichte. Es gibt Grenzen.

Gary weiss genau, wo er hinwill und es ist nicht der Netflix-Stand mit der guten Story und der langen Schlange. Essen ist für ihn mehr als nur ein Medien-Phänomen: «Es zeigt, wer du bist», sagt er. «Deine kulturelle Identität findest du nicht, wenn du nur bei Starbucks verkehrst», meint er und führt uns an einen unspektakulären Stand. «Hier komme ich auch mit meinen Freuden hin», sagt er. Die kleinen Stände sind ein wichtiger Teil der Kultur Koreas. Es sind Geschäfte, die seit Generationen ganze Familien ernähren und beschäftigen. Nach sieben Minuten sind wir an der Reihe und dürfen am kleinen Chromstahl-Tresen Platz nehmen. Gary bestellt Dumplings und Nudeln und Bibimbap, alles kommt in Edelstahlschüsseln, alles geht schnell, alles schmeckt wunderbar und inmitten aller Geschäftstätigkeit stellt mir die Standfrau eine Schüssel hin und sagt: «Kimchi yourself». Das bedeutet, dass man das Kimchi selbst schöpft und sein Gericht auf diese Weise genauso scharf ausgestaltet, wie man eben will. Ziel ist es, wie beim Nationalgericht namens Bibimbap, dass man so würzt und alles mischt und mischt, dass jeder Bissen immer anders schmeckt.

Vielfältig und reich, so ist das Wesen der koreanischen Küche. Sechs Franken kostet das Mittagessen hier pro Person, mit Suppe, Dumplings, Kimchi, Hauptgang, Wasser und überhaupt allem Drum und Dran. Unschlagbar, aber wir merken instinktiv, dass wir den Platz räumen müssen, die nächsten sind dran. Wir könnten jetzt noch Quallen essen, mit Wasabi und Sesam, rohe Seegurken, spicy Oktopus, Blutwurst, Glasnudeln, und, und, und. Man müsste ein Leben bleiben, um alles hier zu verstehen. Dessert? Es gäbe da Waffelgebäcke in Wallnussform, gefüllt mit süsser Bohnenpaste oder Reiskuchen, an dem man ersticken könnte.

Gary schlägt uns eher einen kleinen Spaziergang am frei gelegten Fluss vor, bevor wir – langsam, aber sicher – zu Abend essen sollten. Der Filmproduzent will uns unbedingt den Distrikt Jongno 3-ga zeigen, der gemäss dem «Time Out Magazine» die drittcoolste «Neighborhood» der Welt sei. «It’s also home to Seoul’s LGBTQ+ district, which is vibrant and bustling», kann man dort nachlesen. Am Mittag ist hier gar nichts los, aber wenn im Rest der Stadt die Restaurantlichter langsam ausgehen, geht es hier, im «alten Seoul», erst richtig los. Enge Gässchen, fahrende Foodstände, das pralle Leben, Musik, schrille Jugend und natürlich die weltberühmten BBQ-Lokale, in denen man um wassergekühlte Tischgrillfässer sitzt und schwatzt und trinkt und die Welt für einmal Welt sein lässt, während der Kellner das Schweinefleisch mit einer Schere in mundgerechte Stückchen schneidet. Es gibt verschiedene Teile vom Schwein, Nacken oder Brust, zum Beispiel. Aber auch Schwarte. Das alles kann man würzen mit Sesam, Pfeffer, Salz, Bohnenpulver und grillierten Pilzen. Wir sitzen nicht in irgendeinem der unzähligen Restaurants hier, wir sitzen im Mee Restaurant und Mee heisst so viel wie «Geschmack». Das Lokal ist überbordend voll und bekannt, weil es bekannt ist: «Auch das gehört zu Seoul», sagt Gary und lacht.

Glücklicherweise sorgt sich der Chef des Hauses um uns, wir würden sonst vor lauter Reden das Fleisch nicht richtig drehen und schneiden und grillieren können. Und der Soju, ein Reisdestillat, schenkt sich auch nicht von allein ein. Soju ist der Lifestyle hier, alle trinken Soju, angeblich weil kein Zucker drin ist. Nun ist es doch langsam spät geworden und Gary muss sich nachvollziehbarerweise mitten in der Nacht verabschieden. Zum Abschied drückt er uns noch einen Zettel in die Hand. Hongdae steht drauf. Das «Künstlerviertel», wo die Lichter noch später ausgehen. Auch das gehört zu Seoul. Wir lassen es an uns vorbeiziehen wie die Rauchschwaden und schwören – bei Schweineschwarte und Soju – wir kommen wieder.

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